Leitartikel der Woche
MS Bregenz-Stadt: schärfen statt entschärfen

All dies ist aber nicht der Fall. Das Gebäude wurde kurz vor dem Ersten Weltkrieg errichtet, der Leitgedanke zum damaligen Bildungssystem war offensichtlich „Deutsche Art in Ehr und Pflicht erblüh in Gottes Luft und Licht“. Auch wenn der Ehrbegriff in dieser Form heute ausgedient hat, der Gottbegriff nur noch für eine Minderheit relevant ist und Deutschtümelei ohnehin einen bitteren Beigeschmack hat: 1914 schien dies Stand der Dinge und ist somit historisch relevant; nicht zuletzt wegen der expliziten Erwähnung „Deutsch“ im Vielvölker-Kaiserreich.
Dennoch hat sich die Stadt entschlossen, den Spruch zu „entschärfen“. Künstler Marbod Fritsch schuf eine Arbeit, bei der er Begriffe aus dem Artikel 26 der Menschenrechte entlehnt und diese Substantive mit Lettern aus Metall großformatig über den ursprünglichen – nun kaum mehr entzifferbaren – Ur-Spruch legt. Als künstlerische Arbeit ist das ok, im humanitären Sinn ohnehin und die Dualität (Menschenrechts-Begriffe liegen ÜBER dem antiquierten Leitgedanken von damals) ist auch den dort lernenden Schülern erklärbar.
Was ich mich aber frage: Soll man Aussagen von 1914, egal wie und von wem sie über 100 Jahre später beurteilt werden, überhaupt „entschärfen“? Sollte man sie nicht vielmehr so belassen, um unsere Aufmerksamkeit für die damalige Zeit und Haltung zu schärfen statt zu entschärfen? Ideen werden nicht besser, schlechter oder anders, indem man sie „überdeckt“. Sie verstecken sich dann, werden verwässert oder eben „entschärft“. Das halte ich für falsch und gefährlich, da sie so bis zu einem gewissen Grad auch verniedlicht werden. Wie auch der Leitspruch „Deutsche Art in Ehr und Pflicht erblüh in Gottes Luft und Licht“, der ohne künstlerische Intervention als Irrweg einer Ideologie am Vorabend des ersten großen Völkersterbens diskutiert werden würde. Und als nichts mehr. Gerade darum sollte man ihn so belassen und erhalten oder vielleicht sogar noch sichtbarer machen. Vor allem auch als Warnung.
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